Das System kennt kein Erbarmen. Schon nach wenigen Augenblicken begreife ich das. Es ist Donnerstag, der 16. Mai 2013. Meine Zeit als „Kunde“ beim Jobcenter beginnt. Das Wort Kunde wird hier nicht in seiner ursprünglichen Bedeutung benutzt. Dabei war ich schon ein mal als „Hartzer“ gemeldet. Doch kurz der Reihe nach. Beginnen wir mit der Rahmenhandlung.
Studium beendet und nun?
Es ist ein freudiger Moment mit dem diese Geschichte beginnt. Ich habe am Dienstag sehr erfolgreich mein Diplom verteidigt und somit mein Studium beendet. Das Feiern/Bekanntmachen hier im Blog wartet noch so lange bis das Zeugnis da ist, dann gibt es auch die Diplomarbeit zum Lesen. Da mein Erwerbsmix aus Minijob und Kleingewerbe aber nicht ausreicht, um davon leben zu können, wollte ich mich erwerbslos melden, bis ich eine Arbeit gefunden habe.
Zuvor hatte ich mich telefonisch beim Arbeitsamt bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet, um zu erfahren, ob ich mich als Student auch drei Monate vor Beginn der Arbeitslosigkeit melden muss, so wie es normale Arbeitnehmer_innen machen müssen. Ich schilderte an der Hotline detailliert meine Lage und mir wurde versichert, es reiche am ersten Tag der Arbeitslosigkeit. Telefonisch wurde ich dann schon als erwerbssuchend erfasst. Unterlagen dazu und einen Antrag auf Arbeitslosengeld wurden mit postalisch zugeschickt. Die „Arbeitspaket“ genannten Unterlagen sollte ich ausfüllen und nach wenigen Tagen persönlich bei der Arbeitsangentur in Greifswald einreichen. Den Leistungsantrag sollte ich am ersten Tag nach der Exmatrikulation abgeben.
Nach Abgabe des „Arbeitspakets“ wurde mir schriftlich ein Termin für ein persönliches Gespräch über meine „aktuelle berufliche Situation“ mitgeteilt. Der Termin war Donnerstag um 10 Uhr. Nachdem ich also mein Diplom verteidigt hatte, ging ich zur nächsten Öffnungszeit, das war am Donnerstag morgen um 9 Uhr, zum Studierendensekretariat und exmatrikulierte mich. Unterschrift und Matrikelnummer reichten dafür aus – ein Schelm wer an Sicherheitsmängel denkt. Daraufhin fuhr ich zur Arbeitsagentur, um der Aufforderung nachzukommen.
Antrag für den Reißwolf
Das Gespräch war eher minimal zielführend. Mir wurde das Angebot der Jobbörse der Arbeitsagentur gezeigt und meine Daten wurden ergänzt. Der Mitarbeiter erklärte mir, dass die Arbeitsagentur für zehn schriftliche Bewerbungen im Monat fünf Euro pro Bewerbung zahlt sowie die Reisekosten zu Bewerbungsgesprächen übernimmt. Das klang alles noch sehr gut und hilfreich. Abschließend schlug er vor, dass wir uns im September wieder sehen sollten. Ich musste eine „Eingliederungsvereinbarung“ unterschreiben, laut der ich pro Monat zwei bis drei Bewerbungen nachweisen muss. Meinen Leistungsantrag musste ich bei einem anderen Mitarbeiter abgeben, der nur sagte: „Wieso wurde Ihnen der denn geschickt?“ und ob ich ihn zurückwolle oder er in den Reißwolf könne. Reißwolf!
Mir wurde noch eine Bescheinigung ausgestellt, dass ich keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hätte und ich begab mich damit zum Jobcenter Vorpommern-Greisfwald (Nord) nebenan. Am Empfangsthresen war Platz für drei Mitarbeiter_innen und Warteschlangen, aber nur eine Mitarbeiterin arbeitete dort in dem Augenblick. Sie hatte eine große rote mich an meine Kunden aus Tankstellenzeiten erinnernde Nase, eine kratzige tiefe Stimme und roch streng nach kaltem Zigarettenrauch aus dem Mund. Eigentlich erinnerte alles an ihr an das von RTL2 & Co im TV vermittelte Prekariatsbild. Perfekt für eine Folge „Frauentausch“. Nach wenigen Worten schickte sie mich in den Wartebereich.
100 Absagen und doch motiviert
15 Sitzplätze auf fünf Metallbänken waren in dem großen Raum durch Absperrband vom Rest des Raumes abgetrennt. An einer Wand hingen zwei Plakate, die motivieren sollen. Eines davon zeigte eine Frau in weiß und einen Mann im Anzug, natürlich trug der Mann den Anzug und war als ihr Boss dargestellt. Dazu der Spruch: „Die perfekte Bewerberin – Eine, die auch nach 100 Absagen nicht aufgibt“. Das soll motivieren. Daneben stand schwarz auf weiß an einer Pinnwand „Stellenangebote“. Ganze sieben Angebote hingen dort. Das kann nicht motivieren. Ein schwarzer Flachbild-Fernseher hing an der Wand. Was hier wohl gezeigt wird? Die Anlage mit der Wartenummernanzeige war ebenfalls ausgeschaltet und schaute stumm herunter auf die fünf wartenden Personen.
Als ich schließlich nach kurzem Warten aufgerufen wurde, nahm eine Mitarbeiterin meine Daten aus dem System der Arbeitsagentur auf und ergänzte sie um wenige Punkte. Dann gab sie mir einen Termin für 15 Uhr. Fünf vor zwölf erreichte ich noch das Wohngeldamt und reichte dort meine Wohngeldunterlagen für April und Mai ein. Dringend benötigtes Geld, das ich nicht einfach so verschenken kann. Dann ging es Fertigpizza essen und RTL2 gucken. Irgendwie dachte ich, diese „Aklimatisierung“ nötig zu haben.
Der Represseionskatalog öffnet sich
Kurz nach 15 Uhr ging es los. Das System zeigte erstmals seine Repressionsklauen. Die Mitarbeiterin erzählte mir sofort etwas von „Fördern & Fordern“, dann betete sie den Repressionskatalog auf. Ich würde 21 Tage Urlaub im Jahr erhalten, die ich vorher schriftlich anmelden müsste und mich sofort nach meiner Rückkehr bei ihr melden müsse. Außerdem müsste ich jederzeit erreichbar sein und mich bei Krankheit unverzüglich krank melden. Sobald ich gegen irgendeine Auflage verstoße, würden mir die Leistungen gekürzt. Es soll wehtun. Sie sagte noch leise etwas von „Hartz IV, das ist kein schönes Leben“ und dass ihr das jetzt hier auch keinen Spaß machen würde. Resigniertes Mitgefühl schwang in fast jedem ihrer Worte mir.
Sie druckte mir wahllos vier Stellenangebote sogenannte Vermittlungsvorschläge aus, auf die ich mich bewerben muss. Hauptsache irgendwo im Text stand das Wort „Geograph“. Ich muss eine zweite „Eingliederungsvereinbarung“ unterschreiben. Jetzt soll ich monatlich mindestens acht Bewerbungen nachweisen. Auf Vermittlungsvorschläge muss ich mich spätestens drei Tage nach Erhalt bewerben. Alle drei Monate muss ich diese Bemühungen unaufgefordert nachweisen.
„Ich würde sofort abhauen“
Dann ging es erst richtig los. Sie sprach von Maßnahmen und steckte mich sofort in eine. Bis zum Freitag nächster Woche soll ich einen „Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein“ beim Ostseebildungszentrum (OBZ) einlösen und dort zwei Wochen täglich von 8 bis 15:15 Uhr an einer „Profiling“-Maßnahme teilnehmen. Auf einem Flyer dazu standen die Fragen: Wer bin ich? Was kann ich? Wo will ich hin? Ich ergänzte die Fragen in meinem Kopf um „Was soll ich da? Ich weiß, wer ich bin, was ich kann und auch wohin ich will“.
Sie redete weiter. „So als erstes diese Maßnahme, dann wahrscheinlich einen Ein-Euro-Job, dann wieder eine Maßnahme und so weiter und so fort“. Leise ergänzte sie, dass die Geschäftsführung die Anweisung gegeben habe, es Akademikern so unangenehm wie möglich zu machen, damit sie keine Leistungen mehr beziehen wollen. „Wenn ich arbeitslos werden würde, würde ich sofort mit gepackten Koffern am Bahnhof stehen und abhauen“. Wenn man für das System arbeitet, hat man es durchschaut.
Bedürftigkeitsstriptease
Als ich sie auf ein mir angebotenes bezahltes Praktikum ansprach, das mir auch etwas bringen würde, sagte sie, dass es mir nichts bringen würde und ich es nicht machen soll. Sie schickte mich erneut in den Warteraum – nicht ohne vorher zu sagen, dass nun der entwürdigende Teil folgen würde – damit ich dann bei einer weiteren Mitarbeiterin einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGBII also Hartz IV erhalten würde.
Die Mitarbeiterin dort war wesentlich besser gelaunt und überreichte mir den 27 Seiten starken Antrag inklusive Vermögensnachweis und der Forderung die kompletten Kontoauszüge der letzten sechs Monate einzureichen. Bedürftigkeitsstriptease für den finanziellen Lebensunterhalt durch den Staat.
Soziale Hängematte? Nein, Eiserne Jungfrau!
Nach nur einem Tag im System erscheint mir Hartz IV bereits als das Gefängnis des Prekariats und der Erwerbsuchenden. Nur ohne sichtbare Gitter. Man bekommt teilweise sinnlose Stellenangebote zugeteilt und muss sich in fragwürdige Maßnahmen stecken lassen, immer getrieben von der Angst, die Anforderungen des Jobcenters nicht zu erfüllen und mit Kürzungen bestraft zu werden. Der Lohn dafür ist ein Leben in Armut.
2006 war ich in Hamburg wenige Monate ebenfalls in dem System drin, doch der Studienplatz in Greifswald und ein sehr netter Mitarbeiter zwangen mich zu keinen Maßnahmen oder Bewerbungen. In Greifswald dagegen habe ich nun das Gegenteil erlebt. Dabei will ich es mir gar nicht gemütlich machen in der „sozialen Hängematte“, die eigentlich eine eiserne Jungfrau ist. Ich will einen Job, der meinen Qualifikationen entspricht, mir Spaß macht und fair bezahlt ist. Danach suche ich. Dazu muss mich kein Amt mit noch so harten Repressionen zwingen.
jetzt schon.
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Mehr aus dem Leben im System Hartz IV lesen:
- Tag 1 – Es beginnt (hast du gerade gelesen)
- Tag 3 – Bewerbungen
- Tag 33 – Der erste Monat ist rum
- Tag 60 – der Ablehnungsbescheid
- Tag 61 – eine falsche Hoffnung
- Tag 62 – Aufklärung
- Tag 108 – Es ist vorbei
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Herzlich Willkommen im Club und viel Erfolg – das meine ich ernst – je schneller je besser, denn besser wirds mit dem JobCenter sicher nicht – im Gegenteil.
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Ein sehr aufschlussreicher Beitrag. Ich verstehe allerdings nicht ganz, warum Du lt. Aussage der Mitarbeiterin das Praktikum nicht absolvieren solltest. Möglicherweise kannst Du ja trotzdem „aufstocken“.
Beim Besuch des „Ostseebildungszentrums“ verdienen dann andere an Deiner Arbeitslosigkeit. Da der Fokus des DSFG e.V. scheinbar auf der Vermittlung von Fachkräften nach Skandinavien liegt und zudem völlig wirre IHK-zertifizierte Schulungen angeboten werden (z.B. Marinafachkraft, Seniorenberater), wird es wohl ein – nennen wir es interessanter – Einblick in die Bildungsgutscheinindustrie. In wie fern dieser Verein gemeinnützig sein soll, ist mir nicht richtig klar.
Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn Du über weitere Erfahrungen berichten könntest.
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Kurz zum Praktikum. Sie meinte, sie hätte „Kunden“, die mit 40 oder 50 seit Ewigkeiten nur Praktika absolvieren würden und das sei keine Chance auf einen Job. Wie auch immer, die Argumentation kennt man ja, dennoch überlege ich das Praktikum einfach zu machen. Gibt schließlich gute Einblicke und ist besser als an Maßnahmen teilnehmen.
Ansonsten werde ich weiter von dem Leben im System Hartz IV berichten. Nicht unbedingt täglich, aber sobald es Berichtenswertes gibt.
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Dir geht es wie allen, die da reinrutschen: Sie machen sofort große Fehler. Ich versuche mich mal:
1. Eingliederungsvereinbarung vor Antragstellung ist eigentlich wirkungslos, denn Fördern und Fordern kann das Jobcenter erst, wenn es die Bedürftigkeitsprüfung abgeschlossen und positiv bewertet hat, also NACH Antragsbearbeitung.
2. Eine Eingliederungsvereinbarung unterschreibt man nicht, sondern man nimmt sie mit nach Hause, um sie zu prüfen und ggf. einen Gegenvorschlag einzubringen. Oder eben nicht. Es darf nicht sanktioniert werden, wenn man nicht unterschreibt – stattdessen hat die Behörde des mildere Mittel zu wählen, nämlich den Erlass der EV als Verwaltungsakt. So hättest du z. B. einen Gegenvorschlag einbringen können, der den Arbeitsmarktbedingungen gerecht wird und nicht Monat für Monat min. 8 Bewerbungen erzwingt, die durchaus auch mal recht sinnfrei sein werden.
3. Dass man dir den Antrag auf ALG I ausgehändigt hat, war korrekt, denn auch hier muss ja erstmal geprüft werden, ob ein Anspruch besteht. Dieses Geld und z. B. auch Wohngeld sind sog. vorrangige Leistungen.
4. Die EV der Arbeitsagentur ist hinfällig, da du von denen keine Leistungen beziehst.
5. Du hast 0 Tage Urlaub im Jahr, maximal 21 Tage erlaubt man dir, privat ortsabwesend zu sein. Oder würdest du eine Beerdigung als Urlaub bezeichnen?
6. Praktika sind ein heißes Eisen, denn offiziell sind nur maximal zweiwöchige Praktika zulässig, egal ob bezahlt oder nicht. Idee: Rechne dir aus, ob du mit 400-Euro-Job, Kleingewerbe und/oder Praktikum finanziell mindestens 384 € + einen Teil der Miete einfahren kannst – dann kannst bzw. musst du Wohngeld beantragen und bist das Jobcenter erstmal wieder los.
7. Kontoauszüge: Wenn du willst, bestehe darauf, dass sie vor Ort durchgesehen und dir unkopiert zurückgegeben werden. Denn wenn da nichts Leistungsrelevantes drin steht, dann ist ein Zu-den-Akten-Nehmen datenschutzrechtlich nicht hinnehmbar. Stattdessen kann in der Akte vermerkt werden: „Die Durchsicht der Kontoauszüge des daburna für den Zeitraum X bis Y ergab keine leistungsrelevanten Gegebenheiten.“
8. „Ich will einen Job, der meinen Qualifikationen entspricht, mir Spaß macht und fair bezahlt ist.“ – vergiss es. Das Jobcenter hat nur ein Ziel: Dich so schnell wie es nur geht aus dem Leistungsbezug zu drängen. Und dafür ist jedes Mittel recht: Job unter Qualifikation, nerviges/ödes Arbeitsklima, unterirdische Bezahlung.
9. Profiling: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Unterschreibe nicht gleich alles, sondern lies es dir durch. Gib nicht zu viel von dir preis, besonders nicht Dinge, die dich psychologisch unter Druck setzen können.
Viel Erfolg. Bei weiteren Fragen etc. besuche doch einfach mal eines der vielen Foren, z. B.
– elo-forum.org
– hartz.info
– chefduzen.de
oder schreib mir mit aussagekräftigem Betreff per Mail.
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Danke für die vielen Hinweise, die hoffentlich anderen Leser_innen und mir helfen! Ich finde es spannend wie die Unwissenheit der Menschen ausgenutzt wird. Daher habe ich auch ganz bewusst den Weg gewählt, ohne viel Vorwissen zum Jobcenter zu gehen und einfach mal zu berichten, was dort mit mir angestellt wird. Hartz IV wird schließlich immer noch oft als Luxusleben dargestellt.
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das akademikerInnen so hart rangenommen werden, habe ich wirklich noch nie gehört. es ist eine frechheit. was bringt die maßnahme, wenn dadurch zeit für eine jobrecherche sinnlos vernichtet wird?
angst vor dauerarbeitslosigkeit bei jungakademikerInnen sollte bei der aktuellen lage wohl nicht existieren.
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Mir kommt es nicht drauf an, dass Akademiker drangsaliert werden, es wäre aus meiner Sicht genauso gemein für gerinegr qualifizierte Schulabgänger_innen, Ausgebildete, etc.. Es scheint aber so üblich zu sein in Greifswald. Sobald ich das System genug kennengelernt habe, werde ich beim Leiter der Arbeitsagentur Anfragen zu dieser Geschäftspraxis stellen.
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ich kann da auch nur aus meinem bekanntenkreis berichten. da gibt es wohl mehr akademikerInnen. und denen wurde bisher immer die möglichkeit gegeben, sich auf dem arbeitsmarkt zu orientieren. der staat profitiert ja auch davon, wenn die leute einen der adäquaten job finden, der vielleicht sogar besser als fair bezahlt wird.
aber das ist ja nicht mal ein hausgemachtes problem sondern die folge einer klammen kasse und wenn denn das bild noch vorherrscht, dass die leute nur zum studieren nach greifswald kommen, dann will man sie offenbar direkt wieder loswerden.
das man dann aber so dermaßen drangsaliert wird, finde ich unmöglich.
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Nur mal eine Frage
Was macht eigentlich Wolfgang Dinse? Vor reichlich 4 Jahren nicht nur in den lokalen Medien/Blogs ein Thema, inzwischen längst vergessen?
So funktioniert unsere Gesellschaft jeden Tag besser. 🙁
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