Perfektes Drama am Bahnsteig mit offenem Ende

Bahnhof in der Nacht

Freitagabend 20:34 Uhr Hamburg Hauptbahnhof Gleis 14a/b. Dick eingepackt, aber doch frierend warte ich auf meinen IC. Noch ahne ich nichts von dem gleich stattfindenden kleinen Gastspiel. Der EN 491 (EuroNight = internationaler Nachtzug) nach Wien steht seit sieben Minuten auf dem Gleis. Die Passagiere sind eingestiegen. Planmäßige Abfahrt jetzt. Ansage vom Bahnpersonal am Gleis: „Bitte einsteigen, der Zug fährt ab!“ Pfiff.

Rufe an dem sonst so stillgefrorenen Bahnsteig. „Nein, stopp!“ Ganz hinten von der Treppe kommend laufen mit viel Gepäck mehrere große und kleine Gestalten am Zug entlang. Eine kleine Familienreisegruppe aus zwei Familien. Skiurlaub. Der Schaffner zeigt Menschlichkeit und Entgegenkommen.  Er lässt den Zug doch noch nicht abfahren.

Statt auf seine Rufe zu hören und einzusteigen, laufen sie, bis sie bei ihm stehen. Anscheinend ist ihre Reisegruppe noch nicht vollständig. Ich höre den Schaffner: „Da kommt keiner mehr. Steigen sie ein!“ Doch an diesem Bahnhof steigt niemand mehr ein. Es wird lauter. Nochmal der Satz: „Da kommt keiner mehr!“ Recht hat er, der Bahnsteig ist fast leer.

Gemecker. Dem Schaffner reicht es. „Abfahrt!“ Eine Person der Familienreisegruppe versucht noch eine Tür aufzuhalten, damit der Zug nicht los kann. Vergeblich. Erneuter Pfiff. Mit Licht gibt ein Zugbegleiter dem Lokführer das endgültige Abfahrtssignal.

Der Zug rollt los. In diesem Moment betritt die Familie, auf die noch gewartet wurde, die Bahnsteigbühne. Perfektes Timing in diesem kleinen Drama. Sie erreichen die anderen Mitglieder ihrer Reisegruppe und stimmen in den anklagenden Chor mit ein. Der Schaffner am Gleis ist umringt von ihnen, bleibt aber standhaft und wird nicht ausfallend. Gute Rolle, perfekte Besetzung. Kinder und Skigepäck stehen abseits.

Leider ist es ein Stück mit offenem Ende. Die Protagonisten verabschieden sich von der Bühne. Mein IC fährt ein. Ich mag offene Enden nicht. Es bleibt alles der Phantasie überlassen. Werden die Familien noch per Bahn ihr Urlaubsziel erreichen? Welches Kind wird sich eventuell beim Skifahren verletzten? Und vor allem wer von den Eltern fängt mit wem eine Affäre an?

Foto: „Felix Becker“ / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nd) http://creativecommons.org/licenses/by-nd/3.0/deed.de

2 Kommentare


  1. Sowas hab ich auch schon hinter mir, der Zug hatte natürlich nicht gewartet. Das war aber im Sommer und nach einem Festival, ne Stunde auf den nächsten Zug warten war also weniger schlimm, es gab ja Bier im Bahnhofskiosk.

    Ich habe aber neulich eine vergleichbare Geschichte erlebt, jedoch in umgekehrter Form, irgendwie. Eine Familie mit viel Gepäck war im Zug und wollte an einem recht kleinen Bahnhof raus. Wie so oft ging aber die Tür bei dem RE nicht auf. Also läuft die Familie durch den Waggon zur anderen Tür, die sich natürlich auch nicht öffnete. Auf dem Weg zum nächsten Waggon, fuhr dann der Zug bereits weiter.
    Ich betrachte das mal als Service. So bringt die Bahn Leute an Orte, wo sie nie gedacht hätten mal sein zu können.

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    1. Es ist natürlich super ärgerlich für die Betroffenen, auf der anderen Seite möchte ich meinen Arsch drauf verwetten, dass die sich über andere Reisende aufgeregt hätten, wenn die den Zug verspätet hätten.

      Deine Anekdote erinnert mich an die gute alte Zeit der Interregios und des wirklichen Wochenendtickes, das noch an Sa. und So. galt. Irgendwann standen wir in Bebra und kamen nicht mehr in den nächsten Zug Richtung Bayern, so dass wir statt bei Passau in Hessen auf Fahrt gingen.

      So lange man flexibel ist, ist das ja auch alles nicht so schlimm. Und mir gefallen die Geschichten, die ich in und mit der Bahn erlebe tausend mal besser als jede Autofahrerstory (ausgenommen Trampstories).

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